Ein besonderes Zeitzeugnis der bundesrepublikanischen Geschichte hat Aufnahme gefunden in die Sammlung des Dokumentationszentrums und Museums über die Migration in Deutschland (DOMiD). Die „Möllner Briefe“ geben Einblick in eine Zivilgesellschaft, die sich von den rassistischen Brandanschlägen Anfang der 1990er Jahre entsetzt zeigt und Anteil an dem Leid der Betroffenen nimmt. Durch die Erschließung, Archivierung und vollständige Digitalisierung bei DOMiD werden diese künftig unter Wahrung von Persönlichkeitsrechten der Forschung zugänglich gemacht.
Als 1992 die Familien Yılmaz und Arslan um ihre ermordeten Familienangehörigen trauerten, nahm der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl nicht an den Trauerfeierlichkeiten teil, um „nicht in Beileidstourismus zu verfallen“, wie ein Regierungssprecher es damals ausdrückte. Andere drückten ihr Mitgefühl aus und setzten sich ein gegen die zunehmende rassistische Gewalt im gerade wiedervereinten Deutschland.
Solidarität in Briefform
Die Stadt Mölln rief nach den Anschlägen dazu auf, der Familie ihre Anteilnahme auszudrücken. Hunderte Privatpersonen, darunter Kinder und Jugendliche aber auch Institutionen, Schulen und Vereine sowie Personen des öffentlichen Lebens und Vertreter*innen aus Politik und Wirtschaft schrieben daraufhin den Familien und brachten so ihre Trauer und ihr Entsetzen zum Ausdruck. Selbst konkrete Hilfsangebote wurden gemacht. Nur: diese Briefe erreichten wohl weite Teile der beiden Familien nicht. Erst im Jahr 2019 wurde İbrahim Arslan, einer der neun Verletzten und Überlebenden des Brandanschlages, auf die Briefe aufmerksam, die im Möllner Stadtarchiv aufbewahrt wurden und verlangte deren Übergabe an die Familie. Die Stadt kam dem Wunsch nach.
Würdiges Erinnern angemahnt
Bis heute konnte nicht rekonstruiert werden, warum die Briefe den Familien laut deren Angaben nicht bekannt waren, obwohl diese im Stadtarchiv bewahrt und dort auch im Rahmen von Bildungsangeboten genutzt wurden. Heute sagt Arslan: „Wenn wir damals von der Anteilnahme und Solidarität in der Gesellschaft gewusst hätten, hätte uns das damals geholfen und ein wenig Trost gespendet.“ Die Familien treten seit Jahrzehnten für ein würdiges Erinnern ein, in der die Betroffenen im Mittelpunkt stehen.
Die „Möllner Briefe“
Wir verwenden für die Materialsammlung, die uns von den Familien übergeben wurde, den Begriff, den sie ebenfalls verwenden: die „Möllner Briefe“. Bei dem Konvolut handelt es sich um insgesamt 908 Schriftstücke wie z.B. Briefe, Postkarten, Trauerkarten, Faxe, Telegramme, oder auch Gedichte, Unterschriftenlisten und Zeichnungen. Hierbei nicht eingerechnet sind die ebenfalls zum Bestand gehörenden Kondolenzbücher, Pressesammlungen, Ausstellungstafeln, Resolutionen, Plakate, sowie Antwortvorlagen der Stadt Mölln. DOMiD hat Anfang 2021 bereits hunderte Schriftstücke in die Sammlung aufgenommen und vollständig digitalisiert. 2023 folgte, nachdem weitere Briefe und Begleitmaterial gefunden und an DOMiD übergeben wurde, eine zweite Erfassung. In den Archivräumlichkeiten in Köln-Ehrenfeld ist für Forschende nach Voranmeldung eine Recherche möglich.
Aufbewahrung gegen das Vergessen
Die Familie Arslan ist schon länger Leihgeber für die Sammlung von DOMiD mit Fotografien und Dokumenten. Beiden Familien fiel die Entscheidung leicht, dass die Briefe bei DOMiD aufbewahrt werden sollten, sagt İbrahim Arslan: „DOMiD ist der Ort, wo Migrationsgeschichte erzählt, aufgearbeitet und studiert wird. Für unsere Familie war klar, dass die Briefe auch dort aufbewahrt werden sollen, wo nicht nur die weiße Dominanzgesellschaft ihre Geschichte erzählt, sondern dort wo auch die Geschichten unserer Familien erzählt werden.“ Bengü Kocatürk-Schuster, Referentin für Sammlungserweiterung bei DOMiD: „Die Briefe sind wertvolle Zeugnisse der neusten Zeitgeschichte. Für uns ist es ein wichtiges Zeichen von Vertrauen in DOMiD, dass die Familien ihre Geschichten sowie ihre emotionsbeladenen Archivmaterialien bei uns in guten Händen wissen.“ Sowohl DOMiD als auch die Familien sind offen für Bildungskooperationen mit dem Material.
Im Februar 2025 feiert der Dokumentarfilm „Die Möllner Briefe" der Regisseurin und Autorin Martina Priessner im Rahmen der 75. Internationalen Filmfestspiele Berlin seine Weltpremiere.
İbrahim Arslan, Opfer und Überlebender der rassistischen Brandanschläge von Mölln 1992: „Wenn wir damals von den in den Briefen zum Ausdruck gekommenen Anteilnahme und Solidarität in der Gesellschaft gewusst hätten, hätte uns das damals geholfen und ein wenig Trost gespendet.“ Foto: Sabrina Richmann
Bei den rassistischen Brandanschlägen in Mölln vom 23. November 1992 starben Yeliz Arslan (10), Ayşe Yılmaz (13), und Bahide Arslan (51). In den Tagen darauf schrieben Hunderte Menschen den betroffenen Familien. Nur: diese Briefe erreichten die meisten von ihnen erst fast 30 Jahre später. Wir archivieren diese Briefe und machen sie auf Wunsch der Familien ab heute der Forschung zugänglich.
Wir verwenden für die Materialsammlung, die uns von den Familien übergeben wurde, den Begriff, den sie ebenfalls verwenden: die „Möllner Briefe“. Bei dem Konvolut handelt es sich um insgesamt 908 Schriftstücke wie z.B. Briefe, Postkarten, Trauerkarten und Zeichnungen. Es sind Schreiben, die Anteilnahme, Entsetzen, Scham, Trauer und Solidarität ausdrücken. Manche machen konkrete Hilfsangebote. Sogar Kinder und ganze Schulklassen schickten Briefe.
Die meisten Briefe wurden versandt aus der Bundesrepublik. Vereinzelt wurde aus der Türkei, Niederlande, Belgien, Dänemark, Griechenland, USA und Österreich geschrieben. Einzelne Briefe sind auf Griechisch, Spanisch und Arabisch verfasst. Sämtliche Briefe wurden von uns erfasst und digitalisiert. Nach Terminvergabe sind diese Briefe in unserem Archiv in Köln für die Forschung zugänglich.
İbrahim Arslan erzählt hier seinen Söhnen von den Briefen und der Geschichte seiner Familie. Die betroffenen Familien wünschen sich, dass Bildungsmaterialien mit den Möllner Briefen erstellt werden. Seit Jahrzehnten setzen sie sich gegen Rassismus und für ein würdiges Erinnern ein, das die Betroffenen in den Mittelpunkt stellt.
Der Dokumentarfilm „Die Möllner Briefe“ feiert auf der 75. Berlinale Weltpremiere. Von den vielen hundert Solidaritätsschreiben hatten die Hinterbliebenen des Anschlags in Mölln 1992 erst Jahrzehnte später erfahren. Sie werden bei DOMiD aufbewahrt.
Sammlungserweiterung: Silbertablett mit Brandspuren zeugt von bewegter Geschichte
27.08.2024
Ein bewegendes Objekt, das die Geschichte der rassistischen Brandanschläge in Mölln aus dem Jahr 1992 verkörpert, wird heute in die Sammlung von DOMiD aufgenommen. Die Familie übergab DOMiD das Erinnerungsstück, um das Erinnern wachzuhalten.
Bei den rassistischen Brandanschlägen von Mölln 1992 starben drei Menschen. Hunderte schrieben daraufhin Briefe an die Familien. Diese wichtigen Zeitdokumente der jüngeren deutschen Geschichte sind nun in unserer Sammlung aufgenommen.