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Wir gedenken der Opfer von Hanau
Der schreckliche rassistische Anschlag von Hanau hat auch bei uns Spuren hinterlassen. Wie können wir weiterarbeiten vor dem Hintergrund von Morden an zehn Menschen? Wie können wir unser Bestreben für eine antirassistische „Gesellschaft der Vielen“ noch weiter intensivieren? Warum bleibt der große Aufschrei aus? Das sind einige der Fragen, die wir uns derzeit stellen.
Heute (04.03.2020) findet die zentrale Trauerkundgebung in Hanau statt. Wir folgen einem Aufruf der hessischen Gewerkschaften und werden heute von 11.50h – 12.00h die Arbeit niederlegen, innehalten und um die Toten trauern. Das ist das mindeste, was wir den Ermordeten und ihren trauernden Freund*innen und Angehörigen schuldig sind.
Wir gedenken
Die neun Menschen, die ermordet wurden, sind Opfer geworden, weil der Täter sie in seinem rassistischen Weltbild als fremd wahrnahm. Zudem tötete er seine Mutter aus unbekannten Motiven. Die Opfer waren Hanauer*innen, die als Kellner*innen, in Kurierfirmen und als Kammerjäger arbeiteten oder Ausbildungen zu Maurern und Maschinenführern machten. Sie haben Namen. Wir sollten sie lernen und nie vergessen.
Ferhat Ünvar
Gökhan Gültekin
Hamza Kurtović
Said Nesar Hashemi
Mercedes Kierpacz
Sedat Gürbüz
Kaloyan Velkov
Vili-Viorel Păun
Fatih Saraçoğlu
Gabriele Rathjen
#Saytheirnames
Gökhan war die Säule seiner Familie. Er war zwar der jüngere Bruder, aber sobald er alt genug war, kümmerte er sich um alle anderen. Er war organisiert, fleißig und bereit, Verantwortung zu übernehmen. Tagsüber arbeitete er als Maurer bis er sich mit einem eigenen Umzugsunternehmen selbstständig machte. Abends kellnerte er zusätzlich in der Arena Bar in Hanau-Kesselstadt. Mit dem verdienten Geld unterstützte er seine Eltern und legte auch ein wenig beiseite. Der 37-Jährige wollte sich bald verloben. Gökhan war ein sehr harmonischer Mensch. Er kam mit jedem zurecht, er war bekannt und so etwas wie ein „bunter Hund“ in Hanau. Seine Freunde nannten ihn Gogo. Gökhan wurde in Hanau geboren, seine Familie kam vor über 50 Jahren aus der Türkei nach Deutschland. Seine Eltern bedeuteten ihm die Welt. Seit sein Vater vor zwei Jahren an Krebs erkrankt war, fuhr Gökhan ihn jede Woche zweimal zu seiner Behandlung nach Frankfurt. Gökhan war der Optimist in der Familie und konnte allen auch in schweren Zeiten Kraft spenden. Im Jahr 2006 wurde Gökhan selbst in einen schlimmen Unfall verwickelt. Es war ein Wunder, dass er überlebt hat. Auf einmal wollte er noch mehr vom Leben, Gökhan rückte noch enger mit Familie und Freunden zusammen und spendete Geld, beispielsweise an Hilfsprojekte in Afrika. Er glaubte, Gott hätte ihm ein zweites Leben geschenkt. Sein Vater war einer der wichtigsten Menschen in Gökhans Leben, sie sahen sich fast täglich. So auch am Abend des 19. Februar 2020. Gökhan und sein Vater begegneten sich zufällig um 22 Uhr, sehr kurz und ohne zu wissen, dass es das letzte Mal sein würde. Zwei Minuten später starb Gökhan. 38 Tage nach seinem Sohn Gökhan, starb auch Behçet Gültekin im Alter von 74 Jahren. Wie in seinem Testament festgelegt, wurde er neben Gökhan in der türkischen Provinz Ağrı beerdigt, aus der die Familie stammte. Çetin Gültekin, Gökhans Bruder, schrieb dazu an Gökhans Geburtstag, dem 31. März 2020: „Gökhan, Papa hat es noch rechtzeitig geschafft an deinem Geburtstag bei dir zu sein. Möge Allah euch beide in seinem Paradies empfangen!“
Als Sedat am 16. Mai 1990 geboren wurde, schien die Sonne. Seine Eltern waren an diesem Tag überglücklich. Seine Großmutter platzte vor Stolz über ihr erstes Enkelkind. Mit eineinhalb Jahren sprach der Junge schon in ganzen Sätzen, verzückte alle um sich herum mit seiner Intelligenz und seinem Charme. Seine Mutter las ihm sowohl deutsche als auch türkische Märchen vor. Sedat, sonst voller Energie, konnte für diese Geschichten stundenlang stillsitzen. Bis zu seinem 18. Lebensjahr spielte Sedat beim FC Dietzenbach Fußball. Oft ging er zu den Spielen der Frankfurter Eintracht, er genoss die Atmosphäre im Fußballstadion. Seit dem Tag seiner Geburt liebte Sedat die Sonne und die Wärme. Sobald es die Temperaturen nur ansatzweise hergaben, verließ er das Haus in T-Shirt und kurzer Hose, jedoch nicht ohne sein Outfit sorgfältig auszuwählen. Er war immer sehr gepflegt. Sedat besuchte die Realschule in Dietzenbach. Schon früh stand für ihn fest, dass er sich eines Tages selbstständig machen wollte. Auf dieses Ziel arbeitete er stetig hin. Im Jahr 2017 stieg er als Teilhaber in die Shisha-Bar Midnight ein und erfüllte sich seinen Traum. Das Midnight wurde zu seinem zweiten Zuhause. Sedat war fast immer dort, dank ihm herrschte in der Shisha-Bar stets eine familiäre, friedliche Stimmung. Jeder war hier willkommen, ob gut gelaunt oder auf der Suche nach Ablenkung vom Alltagsstress. Konnte ein Gast mal nicht bezahlen, hat Sedat ihm trotzdem ausgeschenkt. Vertrauen war ihm sehr wichtig. Um seine Mitarbeiter hat sich Sedat stets gesorgt. Einmal fragte ihn ein Angestellter nach Tipps für ein Vorstellungsgespräch bei einem anderen Unternehmen. Sedat half bereitwillig, schließlich wollte der Mitarbeiter noch mehr aus sich machen, vorwärtskommen. Er selbst war doch auch immer dankbar gegenüber all seinen Unterstützern gewesen. Eine davon war immer seine Großmutter gewesen. Sie rief er jeden Tag an, um zu hören, wie es ihr geht und ob sie etwas braucht. Sedat war ein beliebter Mensch. Wenn er den Raum betrat, ging die Sonne auf. Sedat wurde in Langen geboren, aufgewachsen ist er aber in Dietzenbach mit seinen Eltern und einem Bruder. Sedats Mutter lebt bereits seit 50 Jahren in Dietzenbach, sein Vater seit mehr als 30 Jahren. Sedat mochte die Farben Weiß und Blau. Am 16. Mai 2020 wäre er 30 Jahre alt geworden. Seine Familie hat an diesem Tag einen blauen Kuchen angeschnitten. Es war der erste Geburtstag ohne Sedat. Alle waren da, nur er fehlte. „Er war ein gutherziger Mensch. Er wurde von allen sehr geschätzt. Er war derjenige, der die Menschen liebte – egal welcher Herkunft, Glauben und Hautfarbe. Er liebte das Leben mit all seinen Höhen und Tiefen. Er war stets hilfsbereit, ob Alt oder Jung. Wenn der Täter Sedat gekannt hätte – er hätte meinen Sohn sicher nicht töten wollen. Wo auch immer er hinging, er strahlte wie eine Sonne.“ – Emiş Gürbüz (Mutter von Sedat)
Die Familie Hashemi lebt seit bald 30 Jahren in Hanau. Jedes ihrer fünf Kinder wurde im St. Vinzenz-Krankenhaus in Hanau geboren. Said Nesar war das Kind der Mitte: zwei Geschwister waren älter als er, zwei jünger. Die älteste Schwester ist Lehrerin. Said Nesar sagte ihr immer wieder, wie stolz er auf sie sei. Der zwei Jahre ältere Said Etris war am Abend des 19. Februar auch in der Arena Bar in Kesselstadt. Er wurde angeschossen, überlebte schwer verletzt. Seine beiden jüngeren Geschwister verwöhnte Said Nesar stets. Wollten sie etwas haben, konnte er nicht nein sagen. Said Nesar hat sein ganzes Leben in Hanau verbracht. Hier war er glücklich, hier war sein Zuhause. Nach dem Realschulabschluss an der Otto-Hahn-Schule machte Said Nesar bei Goodyear Dunlop eine Ausbildung zum Maschinen- und Anlagenführer und arbeitete dort danach in Vollzeit. 2019 hat er sich für eine Weiterbildung zum staatlich geprüften Techniker an der Ludwig-Geißler-Schule entschieden, die er 2021 erfolgreich abgeschlossen hätte. Sein Auto war seine große Leidenschaft. Sein Kennzeichen war eine Hommage an seine Heimatstadt und seinen Stadtteil: es endete mit den Ziffern 454, den letzten drei Ziffern der Kesselstädter Postleitzahl. Said Nesar sah stets das Gute in den Menschen. Gab es mal Streit, war er derjenige, der schlichtete. In seiner Familie und bei seinen Freunden sorgte er stets für gute Laune. Said Nesar sollte in diesem Jahr Trauzeuge seines besten Freundes werden. Auf eine Feier nach ihrer Hochzeit im August hat das Brautpaar aus Trauer verzichtet. Said Nesar hat viele Freunde, die ihn schmerzlich vermissen. Said Nesar war das jüngste Opfer des rassistischen Anschlags am 19. Februar 2020 in Hanau. Gemeinsam mit seinem Bruder Said Etris hatte er an diesem Abend in der Arena Bar Fußball schauen wollen. Nachdem die Schüsse in der Bar abgegeben worden waren, fand sich Said Etris schwer verwundet am Boden liegend wieder. Neben ihm lag Said Nesar. Er war bereits tot, doch sein Lächeln hat er auch in diesem Moment nicht verloren. Für die Familie Hashemi ist in diesem Moment die Zeit stehen geblieben. Die Welt dreht sich nicht mehr für sie. Ihr Schmerz wird nie vergehen. Es vergeht kein Moment, in dem sie Said Nesar nicht vermissen.
Mercedes war eine Frohnatur. Ein Mensch, der an echter Freundschaft interessiert war und den man gerne an seiner Seite behalten wollte. Sie war sympathisch und offen, in ihrer Gegenwart hat man sich einfach wohlgefühlt. Sie hatte gerne ihre Freunde um sich und interessierte sich sehr für deren Wohlergehen. Jederzeit stand sie ihnen bei Problemen und Sorgen zur Seite. Mercedes war Mutter zweier Kinder, für die sie all ihre Energie einsetzte. Sie hat ihre Warmherzigkeit und ihr Selbstbewusstsein an ihren Sohn und ihre Tochter weitergegeben. Mercedes drehte oft die Musik laut auf und tanzte – einfach so und nur für sich allein. Sie war neugierig auf das Leben und alles, was sie gemeinsam mit ihren Kindern noch erleben würde. Fast täglich arbeitete Mercedes im Kiosk neben der Arena Bar. Mit Fleiß wollte sie die Zukunft für ihre Liebsten gestalten. Der Name Mercedes bedeutet „die Gnädige, Barmherzige“ – und genau so war sie: ein zutiefst friedfertiger Mensch, der immer interessiert war an seinen Mitmenschen und ihren Gedanken. Mercedes wurde 1984 in Offenbach geboren. Ihre Familie wanderte vor einem halben Jahrhundert nach Deutschland ein. Mercedes war katholischen Glaubens. Am Abend des 19. Februar 2020 hatte sie nur kurz eine Pizza für ihre Kinder aus der Arena Bar abholen wollen. Mercedes wurde 35 Jahre alt.
Sein Name ist Hamza Kenan Kurtović. Er ist am 04.04.1997 in Hanau geboren. Seine Eltern sind Dijana und Armin Kurtović. Hamza ist in Hanau aufgewachsen und sprach die deutsche Sprache besser als seine Muttersprache. Hamza hat drei Geschwister, zwei Brüder Aziz und Karim und eine Schwester Ajla. Ajla und Aziz sind Zwillinge und die Ältesten, gefolgt von Hamza und Karim. Der Altersunterschied zwischen den Geschwistern beträgt jeweils zwei Jahre. Hamza hatte seine Berufsausbildung als Fachlagerist im Juni 2019 abgeschlossen und befand sich am Anfang seines Berufslebens. Er hatte zwei Wochen vor seinem Tod einen neuen Job angefangen und war mit seinem neuen Arbeitsplatz überglücklich und zufrieden. Seinen Eltern erzählte er, dass er bis zu seiner Rente dort arbeiten möchte. Hamza war ein wundervoller, sympathischer, liebevoller und immer gut gelaunter Mensch. Er war sehr verantwortungsbewusst, hilfsbereit, zuverlässig und vor allem war Hamza immer für seine Familie und seine Freunde da. Und das egal zu welcher Uhrzeit. Er war zu jeder Zeit für seine Freunde und Familie erreichbar. Das Wohlergehen anderer hatte oberste Priorität. Zum Beispiel lieh er seinem Nachbarn sein Auto, als dessen defekt war, obwohl er es selbst gebraucht hätte, um zur Arbeit zu fahren. Es war für ihn wichtiger, dass die Nachbarn sich keine Umstände machen. Er organisierte für sie Fahrgemeinschaften. Hamza hat sich für Menschen in Not eingesetzt. Er hatte bereits seit seinem ersten Azubigehalt für diese gespendet. Hamza hatte ein großes Herz. Er war ein Familienmensch, hielt alle zusammen und bei Laune. Er war der Fels in der Brandung. Hamza war sehr kontaktfreudig. Er hatte einen sehr großen Freundeskreis. Zu seinen Hobbies zählten Treffen und Gespräche mit Freunden, außerdem hatte er eine Vorliebe für Autos. Er hatte kürzlich seine Flugangst überwunden und plante zeitnah weitere Reisen mit Freunden, auch Langstreckenflüge. Seine letzte Reise hatte er sich sicherlich anders vorgestellt. Diese ist er nicht alleine angetreten, sondern ging mit einigen seiner engsten Freunde von uns.
Vili-Viorel lebte seit 2016 in Deutschland. Sein Vater hatte ihn und seine Mutter aus Rumänien zu sich geholt, nachdem er schon ein Jahr allein in Hanau verbracht hatte. Vili-Viorel hatte weiter die Schule besuchen wollen, stellte jedoch das Wohlergehen seiner Familie an erste Stelle. Um sie zu unterstützen, begann er als Kurierfahrer zu arbeiten. Vili-Viorel war ein hilfsbereiter, fleißiger und sehr verantwortungsbewusster junger Mann. Mit seiner Freundin war er sehr glücklich. Er war ein ruhiger Typ, sehr erwachsen für sein Alter. Er war niemand, der zu Übersprungshandlungen neigte und doch war er es, der am Abend des 19. Februar die Schüsse am ersten Tatort am Heumarkt beobachtete und versuchte, den Täter mit seinem Auto zu blockieren. Als das nicht gelang, verfolgte er den Täter mit seinem Auto bis an den Kurt-Schumacher-Platz. Unterwegs versuchte er mehrmals vergeblich, den Notruf zu erreichen. Am Kurt-Schumacher-Platz erschoss der Attentäter Vili-Viorel in seinem Auto auf dem Parkplatz vor der Arena Bar. Seine Zivilcourage bezahlte der junge Mann mit dem Leben. Vili-Viorel war das einzige Kind seiner Eltern. Auch sie fühlen sich, als hätten sie keine Zukunft mehr. Vili-Viorels Vater Niculescu sucht nach Antworten. Manchmal auch bei sich selbst. Er habe doch seine Frau und Vili-Viorel nach Deutschland geholt. Er habe gesagt, es sei gut hier. Die Păuns haben ihren Sohn in Rumänien begraben lassen. In Deutschland gab ihnen nichts mehr Halt, daher kehrten sie in ihr Heimatland zurück. Hier können sie bei Vili-Viorel sein. Vili-Viorel hat die Dankbarkeit und den Respekt aller Hanauer Bürger verdient. Er wird immer ein Vorbild bleiben. Ein eigens aufgestelltes Kreuz am Kurt-Schumacher-Platz erinnert an Vili-Viorels Mut und Menschlichkeit und soll auch mahnen, dass so etwas nicht noch einmal passiert.
Als seine Mutter schwanger war, deutete Hayrettin auf den Bauch seiner Mutter und sagte, sein kleiner Bruder solle Fatih heißen. Fatih ist der Name für jemanden, der Türen öffnet, der Dinge schafft und sich das Leben erobert. So einen Bruder hatte Hayrettin sich gewünscht und auch bekommen. Fatih hatte immer Ziele. Er zog von Regensburg nach Hanau, um sich hier eine Existenz aufzubauen. Er machte sich als Schädlingsbekämpfer selbstständig. Erst eine Woche vor seinem Tod drehte ein Lokalsender einen Beitrag mit ihm und seinem kleinen Unternehmen. Fatih freute sich so sehr und hoffte, viele neue Auftraggeber zu gewinnen. All seine Mühe und harte Arbeit schienen sich auszuzahlen. Seine Familie war wie immer sehr stolz auf ihn. Fatih hat sich stets um seine Eltern gekümmert. Er fuhr regelmäßig nach Regensburg, um sie bei Behördengängen zu unterstützen und für sie zu übersetzen. Fatihs Familie stammt aus dem türkischen İskilip. Fatih war immer fleißig, er wusste aber auch, wie man das Leben genießt. Zusammen mit seinem Bruder Hayrettin ging er gerne zum Sport, danach in die Sauna und hinterher in ein gutes Restaurant. Leckeres Essen wusste Fatih sehr zu schätzen. Am Abend des 19. Februar war Fatih nur zufällig am Heumarkt, weil er einen Freund nach der Arbeit in die Innenstadt gefahren hatte. Fatih wurde auf offener Straße erschossen. Am 1. April 2020 wäre Fatih 35 Jahre alt geworden. Sein Vater hat am gleichen Tag Geburtstag. Sie haben immer zusammen gefeiert. Fatih wurde in der Türkei neben seiner bereits verstorbenen Mutter begraben. Sein Bruder Hayrettin betet jeden Tag, dass er und die ganze Familie einen Weg finden, die Trauer um Fatih auszuhalten.
Ferhat Ünvar kam am 14. November 1996 in Hanau am Main auf die Welt. Er war das erste Kind von Serpil Temiz und Metin Ünvar. Ferhat hat drei Geschwister, eine Schwester und zwei Brüder. Sein Opa hat die Straßen von Hanau gebaut, damals als Gastarbeiter. Ferhat war ein begabtes Kind, er interessierte sich sehr für Mathematik und las viel zu Hause. Einer seiner Lieblingsautoren war Paulo Coelho. Er war ein philosophischer und tiefgründiger Mensch, hat sich gerne über Gott und die Welt unterhalten und alles hinterfragt. Hilfsbereit war Ferhat immer. Wenn er mitbekommen hat, dass jemand Hilfe benötigt, war er sofort da – auch, wenn es nur darum ging, seine Freunde zum Lachen zu bringen. Er hat immer an die Bedürfnisse der anderen Menschen gedacht, bevor er an seine eigenen dachte. Das machte ihn so besonders. Frauen hat er mit größtem Respekt behandelt, ein richtiger Gentleman. Sah er etwa, dass eine Person belästigt wird, kam Ferhat direkt zu Hilfe. Darüber hinaus hatte er sich mit den unterschiedlichsten Menschen verstanden, unabhängig von Alter und Herkunft. Ferhat ging gerne Angeln und lernte dort viele ältere Menschen kennen. Er machte sogar einen Angelschein, obwohl er nicht gerne Fisch aß. Die geangelten Fische verschenkte er. Obwohl Ferhat Unvar ein so offener Mensch war, belasteten ihn auch so einige Sorgen, die er nicht mit vielen teilte. Aber er sprach nicht mit vielen darüber. Wie zum Beispiel die Schulpolitik: er war der Meinung, dass die schulische Leistung nichts über die Intelligenz eines Menschen aussagt. Ferhat musste in der Schule immer kämpfen. Oft gab es Ärger. Aussagen wie „Du wirst es niemals zu etwas bringen“, entmutigten Ferhat und seine Motivation ließ nach. Ferhat und seine Mutter haben sich deswegen oft gestritten. Auch wenn Ferhat seine Ausbildung zum Heizungsintallateur absolvierte, feierte er seinen Abschluss nicht. Für ihn war die Schule ein Problem, das er lösen musste. Er wollte sich selbstständig machen und seine eigene Firma gründen. Ferhat wollte etwas Gutes für Hanau tun. Ferhat wollte den Menschen ein warmes Zuhause geben. Ferhat wollte Reisen, die Welt erkunden, unterschiedliche Kulturen kennenlernen. Selbst verfasste Texte von Ferhat Ünvar: 19. Dezember 2016 Ich könnt heulen vor Wut Diese Dummheit treibt mich zur Weißglut. Ich schau in die Ferne und frag mich, wann wird alles wieder gut? Denn egal was auch passiert, ich hör erst auf zu kämpfen, wenn meine Seele im Jenseits ruht. 20. Dezember 2016: Diese Wut frisst mich auf, treibt den Schweiß auf meine Stirn Die Welt verrottet vor sich hin und kein’ scheint’s zu interessieren 21. Dezember 2016: 1945 schrie ein Land »Mit uns nie wieder!« plötzlich gibt’s die AfD, besorgte Bürger und Pegida 14. April 2017: Hör auf zu weinen wisch dir deine Tränen weg Ich weiß selber Wie bitter dieses Leben schmeckt. 9. Oktober 2017: Fast acht Milliarden Menschen Doch die Menschlichkeit fehlt
Kaloyan Velkov Kaloyan war vor zwei Jahren zusammen mit Frau und Sohn nach Deutschland gekommen. Der 33-Jährige arbeitete als LKW-Fahrer und half zusätzlich im Lokal „La Votre“ am Heumarkt aus. Seine Frau und sein Sohn kehrten nach Bulgarien zurück, aber Kaloyan blieb in Deutschland, um sich eine Existenz aufzubauen und die Familie in Bulgarien weiterhin zu unterstützen. Kaloyan holte seine Mutter zu sich. Sie wohnten in Erlensee, in der Wohnung unter ihnen lebte Kaloyans Cousine Vaska mit ihren Kindern, mit denen er ebenfalls viel Zeit verbrachte. Kaloyans Leben bestand aus Arbeit und Sport – damit war er sehr zufrieden. Kaloyan brauchte nie viele Dinge für sein inneres Glück, er lebte sehr genügsam. Er hat sehr gerne gegessen, selbst gekocht hat er in seiner Zeit in Deutschland jedoch nur ein einziges Mal, als sein Bruder zu Besuch war. Er machte Fleisch mit Kartoffeln in Tomatensoße. Alle hatten danach Bauchschmerzen – nicht nur vom vielen Essen, sondern auch vom vielen Lachen an diesem Abend. Vaska telefonierte am 19. Februar 2020 um 21:47 Uhr zum letzten Mal mit ihrem Cousin Kaloyan. Sie hatten darüber gesprochen, am Wochenende zusammen in eine Bar mit Live-Musik zu gehen. Um 21:57 Uhr war Kaloyan tot. Kaloyans Mutter wartete noch mehrere Tage nach seinem Tod auf seine Rückkehr. Vaska konnte sie nicht davon abbringen, geschweige denn sie beruhigen. Schließlich hielt Kaloyans Mutter es in Deutschland nicht mehr aus und kehrte nach Bulgarien zurück. Kaloyan wurde in der Nähe seiner Familie, in seiner Heimatstadt Mesdra, beerdigt. Es ist hier Tradition, den Toten auch etwas zu Essen oder zu Trinken mitzubringen, wenn man sie auf dem Friedhof besucht. Kaloyans Sohn bringt ihm sein Lieblingsgetränk.