„Gastarbeiter“-Musik zwischen Selbstermächtigung und kommerziellem Erfolg
Neben der harten Arbeit in Deutschland waren für viele „Gastarbeiter“ Musik und Kulturproduktionen wichtige Bestandteile ihrer Freizeitgestaltung. Hierüber kamen sie in den verbindenden Austausch mit Gleichgesinnten. Die Geschichte der Anwerbung von Arbeitsmigrant*innen aus verschiedenen Anrainerstaaten des Mittelmeers beeinflussten aber auch die Musikindustrie in Deutschland. Arbeitsmigrant*innen entwickelten sich zu einer lukrativen Zielgruppe innerhalb des Musikmarktes. Das Kölner Label Türküola richtete sich erfolgreich an die erste Generation der Arbeitsmigrant*innen; Alben von sentimentalen, arabesken „Gastarbeitersängern“ verkauften sich millionenfach. Gleichzeitig ließen sich deutsche Schlagersänger wie Udo Jürgens in „Griechischer Wein“ von der Musik der „Gastarbeiter“ inspirieren, auch „Oh Lady Mary“ von Peter Alexander stammt eigentlich aus der Feder von Metin Bükey („Samanyolu“).
Der Song „Deutsche Freunde“ des Liedermachers Ozan Ata Canani erschien im Jahr 1978. Darin bezieht er sich auf das berühmte Zitat des Schweizer Schriftstellers Max Frisch: „Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen“. Canani gibt somit das Dilemma der damaligen Einwanderer*innen in Deutschland wieder, die als Arbeitskräfte ins Land geholt wurden, aber als Menschen doch irgendwie unerwünscht blieben. Ausdruck verleiht Canani seinen Gefühlen in diesem Lied übrigens in deutscher Sprache. So konnten auch Angehörige der deutschen Mehrheitsgesellschaft seine Botschaft nicht überhören. Der Track wurde 2013 von Imran Ayata und Bülent Kullukcu wieder entdeckt und im Rahmen der Compilation "Songs of Gastarbeiter, Vol.1" von Ata Canani neu aufgenommen.
Von Herzschmerz bis Sozialkritik
Viele Lieder besangen den Schmerz fern von der Heimat zu sein. Andere thematisierten miserable Arbeitsbedingungen in den deutschen Fabriken. Metin Türkoz besang mit „Guten Abend, Mayistero“ ironisch den deutschen Vorarbeiter und schuf so Momente der Entlastung und der Selbstermächtigung.
Häufig verbanden sich in der Musik auch politische und sentimentale Stränge wie in Yüksel Özkasaps „Zalim Almanya“ (Deutschland, der Tyrann), das nicht nur ein trauriges Liebeslied ist, sondern auch ihre ärmliche soziale Lage als Sängerin thematisiert. Sozialkritische Protestlieder, oder auch Lieder über internationale Solidarität, waren für viele hoch politisierte Arbeitsmigrant*innen der 1960er und 1970er Jahre von besonderem Interesse.
„Freiheit für Griechenland“
Vielen Griech*innen, aber auch manch anderen Angehörigen der Studentenbewegung von 1968, gilt Melina Mercouri bis heute als Heldin. Nachdem sich die Sängerin öffentlich gegen die Militärdiktatur in Griechenland (1967-1974) ausgesprochen hatte, wurde sie dort ausgebürgert. Daraufhin entgegnete sie im Fernsehen: „Ich bin als Griechin geboren und werde als Griechin sterben. Diese Leute sind als Faschisten geboren und werden als Faschisten sterben.“ Während einer Tournee im Jahre 1968 gab sie u. a. in Essen ein Konzert, das unter dem Motto „Melina Mercouri singt für Griechenland“ stand. Mercouri spendete die gesamten Erlöse an die Opfer der griechischen Diktatur. So avancierte sie für viele Menschen sowohl zu einem musikalischen als auch politischen Vorbild und übernahm schließlich im Oktober 1981, sieben Jahre nach dem Sturz der Militärdiktatur, das Amt der Kulturministerin von Griechenland.
Weitere Objekte aus unserer Sammlung
Langspielplatte von Stelios Kazantzidis No.6., 1976. Der Pontus-Griechische Sänger Stelios Kazantzidis gehörte zu den beliebtesten Sänger*innen unter Griech*innen in Deutschland. Er sang in seinen Liedern über Heimweh, die Sehnsucht nach der verlassenen Heimat und verlieh dem Lebensgefühl der aus Griechenland angeworbenen Arbeitskräfte eine Stimme. DOMiD-Archiv, Köln, E 1473,0471
8-Spur-Kassette von Zeki Müren, Türküola, 1970. Türküola war die erste Plattenfirma, die in Deutschland türkischsprachige Musik produzierte. Sie wurde in den 1960er Jahren von Yılmaz Asöcal in Köln gegründet. Neben Langspielplatten, Kassetten und später auch CDs bekannter türkisch-sprachiger Künstler*innen wie Barış Manço, İbrahim Tatlıses oder Zeki Müren, nahm Türküola ab den 1960er Jahren auch zahlreiche Arbeitsmigrant*innen unter Vertrag, die erst in Deutschland eine musikalische Karriere begonnen hatten. Zu dieser Gruppe gehörten auch die beiden sich am besten verkaufenden Künstler*innen der Plattenfirma, Metin Türköz und Yüksel Özkasap, die auch in der Türkei Berühmtheit erlangten. In den 1980er Jahren produzierte Türküola die Alben des bekannten Musikers Cem Karaca. DOMiD-Archiv, Köln, BT 0612,0008
Schallplatte „Kabahat Tercümanda“ von Metin Türköz, 1970er Jahre, Türkofon. DOMiD-Archiv, Köln, BT 0204,0001 Metin Türköz war einer der bekanntesten Sänger*innen der sogenannten „Gastarbeitermusik“. Seine Lieder berichteten vom Alltag der Arbeitsmigrant*innen, wie zum Beispiel das Lied „Guten Morgen Mayistero“. Viele davon waren sozialkritisch, wie der Titel „Gastarbayter Raus“ deutlich macht.
Single von Yüksel Özkasap auf dem Label Türküola, 1968: Yüksel Özkasap kam als Fabrikarbeiterin nach Velbert und arbeitete in der Schlüsselfabrik Stannay, wo sie nebenbei zu singen begann. Daraus entwickelte sich eine Musikkarriere, die ihr von ihren Fans den Beinamen „Köln Bülbülü“ („Nachtigall von Köln“) einbrachte. Özkasap sang an die 500 „Gurbet Türküleri“ („Volkslieder aus der Fremde“) und brachte über 20 Alben heraus. DOMiD-Archiv, Köln, SD 0130 000
Tamburin zum Spielen der Tarantella, handbemalt, um 1985. DOMiD-Archiv, Köln, E 0893,0002. Der Verein Associazione Genitori Italiani di Colonia (“Verein italienischer Eltern in Köln”) umfasste auch eine Folkloretanzgruppe. Sie wurde 1981 gegründet und widmete sich der Tarantella, einem aus Süditalien stammendem Volkstanz. Im Jahre 2005 umfasste der Verein 230 Mitglieder. Die Herkunftsgeschichte besagt, dass durch den schnellen Takt der Tarantella die von einer Tarantel gebissenen Patient*innen zum schnellen Tanz bis zur völligen Erschöpfung animiert werden sollten. Angeblich würde auf diese Weise das tierische Gift aus dem Körper getrieben. Ein typisches Rhythmusinstrument ist das Tamburin, hier mit der Triskele der Flagge Siziliens geschmückt.
Tragbarer Schallplattenspieler für Singles der Marke Fonette, 1960er bis 1970er Jahre. DOMiD-Archiv, Köln, SD 0615,0000 Solche Geräte wurden in den 1960er und 1970er Jahren in Deutschland von Arbeitsmigrant*innen gerne gekauft – als Geschenk für die Familie oder für den eigenen Gebrauch.
Koreanische LP, Zusammenstellungen koreanischer Lieder, Zeitraum 1950/70. Diese LP wurde von den koreanischen Krankenschwestern gerne gehört. Sie versammelten sich und hörten gemeinsam die Lieder und weinten. Der Ort war ein Gemeinschaftsraum in der Mainzer Innenstadt, der von der Stadt Mainz zur Verfügung gestellt wurde. In diesem Raum trafen sich alle Koreaner*innen in Mainz. DOMiD-Archiv, Köln, (E 1359,0072 )
Bestellung und Rechtshinweis
Dieses und alle weiteren Motive aus unserer Serie "Migrationsgeschichte in Bildern" gibt es als Postkarten bei uns in der DOMiD-Geschäftsstelle. Gerne könnt ihr diese abholen oder auch bestellen unter: presse@domid.org. Wir schicken gerne ein Set kostenfrei zu. In unserem Jubiläumsjahr 2020 (30 Jahre DOMiD) entstehen insgesamt zwölf Motive mit Geschichten aus unserer Sammlung. Update: Leider vergriffen!
DOMiD hat sich darum bemüht, alle Rechteinhaber*innen an den Motiven ausfindig zu machen und zu kontaktieren. Sollte dies in einem Fall nicht gelungen sein, bitten wir mögliche Rechteinhaber*innen, sich mit uns in Verbindung zu setzen.
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„Gastarbeiter“ – mit diesem problematischen Begriff wurden ausländische Arbeitskräfte benannt, die nur kurzfristig in Deutschland arbeiten sollten. In der Deutschen Verbindungsstelle in Istanbul warben diese Tafeln um Arbeitssuchende.