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Pierburg-Streik bei Neuss, 1973. Foto: DOMiD-Archiv, Köln

Geschichte, Veranstaltung, Film, Diskussion-Podium, Digitalangebot, Audio/Podcast

"Wir hörten auf Gastarbeiter zu sein" – 50 Jahre "wilde" Streiks von 1973

Vor 50 Jahren, im Jahr 1973, wurde an über 300 Orten in der Bundesrepublik gestreikt. Maßgeblich beteiligt an diesen Streiks waren migrantische Arbeiter*innen, die im Zuge der Anwerbeabkommen seit den 1950er Jahren nach Westdeutschland gekommen waren. Diese Streiks werden häufig als „wild“ bezeichnet, da sie die tarifvertragliche „Friedenspflicht“ missachteten und die Gewerkschaften in der Regel nicht an den Arbeitsniederlegungen beteiligt waren. Neuere Interpretationen ordnen die spontanen Streiks jedoch in die langfristig angelegten, gewerkschaftlich organisierten Arbeitskämpfe ein. Die Streiks im Jahr 1973 stellten lediglich den Höhepunkt von Arbeitskämpfen dar, an denen sich Migrant*innen schon seit den späten 1950er Jahren beteiligt hatten, um für eine Gleichstellung mit deutschen Arbeiter*innen einzutreten.

Der Streik bei Ford

Die meisten Streiks blieben klein und unbemerkt. Anders der Streik bei den Ford-Werken in Köln-Niehl im August 1973: Als angeblicher „Türkenstreik“ bundesweit beachtet, wurde dieser Arbeitskampf zur Bedrohung stilisiert. Rassistische Schlagzeilen wie „Türken-Terror bei Ford“ beherrschten die Boulevardpresse und machten die Beteiligung anderer Nationalitäten unsichtbar. Der Streik wurde von Polizei und Werkschutz zum Teil gewaltsam beendet. Die Forderungen der Arbeiter wurden nicht erfüllt.

Der Streik bei Pierburg

Anders der Streik beim Automobilzulieferer Pierburg in Neuss, der von migrantischen Arbeiterinnen ausging. Es gelang ihnen, den mehrheitlich aus Deutschen bestehenden Betriebsrat auf ihre Seite zu ziehen und gemeinsam für bessere Arbeitsbedingungen einzutreten. Gegen den Willen der Werksleitung, die auch im Nachhinein versuchte, die Streikenden zu kriminalisieren, konnten die Frauen so zentrale Forderungen durchsetzen.

Über diese Sonderseite

Auf dieser Sonderseite dokumentieren wir exemplarisch für die hunderten Streiks Material zu den Arbeitsniederlegungen in den Werken von Pierburg und Ford: Filme, Zeitzeug*innen-Berichte, Fotos und mehr. Wir präsentieren beispielsweise ein kurzes Hörspiel von Mesut Bayraktar und ein Musikstück von Nazım Sabuncu zum Ford-Streik. Außerdem gibt es Veranstaltungstipps für die nächsten Tage und Wochen. Zudem haben wir Historiker*innen, Zeitzeugen und Gewerkschafter nach ihren heutigen Perspektiven auf die „wilden“ Streiks von 1973 befragt. Zu vertiefenden Lektüre steht nicht nur unser erstmals als eBook in der Reihe edition DOMiD erschienenes Buch zum Fordstreik zur Verfügung, sondern auch Online-Links verweisen auf weiterführende Einordnungen der damaligen Arbeitskämpfe.

Veranstaltungen ++ Termine ++

#1 02.08.2023, Köln. Film: Aşk, Mark ve Ölüm ("Liebe, D-Mark und Tod ")

Filmvorführung: Aşk, Mark ve Ölüm


Liebe, D-Mark und Tod
Dokumentarfilm, D, 2022, 96 min, OV türk. / dt. mit engl. UT
Regie: Cem Kaya

Zu Beginn der 60er Jahre brachten Menschen aus der Türkei nicht nur ihre Arbeitskraft nach Deutschland, sondern auch ihre Sprache, Kultur und Musik. Es entstand eine lebendige Musikszene, die ihre Wurzeln in Anatolien, aber ihre Blütezeit in der Bundesrepublik hatte. Bis heute ist sie allgegenwärtig.
Cem Kayas mitreißender Dokumentarfilm wurde bei den 72. Internationalen Filmfestspielen Berlin 2022 mit dem Panorama Publikums-Preis ausgezeichnet.

Im Anschluss lädt die Gruppe "Streikkultur" zum Publikumsgespräch ein.

Eine Veranstaltung der Gruppe "Streikkultur".

#2 06.08.2023, Köln. Zeitzeugen-Gespräch: "Streik"

Zeitzeugen-Gespräch: "Streik"

der Heimatabend am Sonntagvormittag
mit Peter Bach, Mitat Özdemir und Claudia Sledz

Vor fünfzig Jahren, im Jahr 1973, fand der legendäre Ford-Streik statt. Rund zwei Drittel der damaligen Beschäftigten waren türkische Arbeiter.
Sie waren ausschließlich in den unteren Lohngruppen beschäftigt und im Betriebsrat praktisch nicht vertreten. Sie gingen in den sogenannten wilden Streik, der nach 4 Tagen mit Polizeieinsätzen und Kündigungen endete. Kurz danach verfügte die Regierung einen allgemeinen
Anwerbestopp. Peter Bach und Mitat Özdemir berichten als Zeitzeugen von den Ereignissen in Köln. Claudia Sledz singt.
Eine Veranstaltung in Zusammenarbeit mit der VHS
Mülheim.

Sonntag, 6. August 2023
Beginn 11 Uhr
Eintritt 8€, ermäßigt 6 €

Eine Veranstaltung der Gruppe "Streikkultur".

#3 16.08.2023, Köln. Film: „Diese Arbeitsniederlegung war nicht geplant“

Filmvorführung: „Diese Arbeitsniederlegung war nicht geplant“

Die Dokumentation „Diese Arbeitsniederlegung war nicht geplant“ (auch auf dieser Sonderseite zu sehen mit freundlicher Genehmigung von labournet.tv) dokumentiert den wilden Streik bei Ford in Köln im Sommer 1973. Anschließend an den Film gibt es Gespräch und Diskussion mit Streikenden von damals.

Rex am Ring, Köln
19.30h

Eine Veranstaltung der Gruppe "Streikkultur".

#4 24.08.2023, Köln, Ausstellung & Diskussion: „Arbeits- und Anerkennungskämpfe der Migration zwischen Erinnerung und Aktualität“

Ausstellungseröffnung & Diskussionsveranstaltung

„Arbeits- und Anerkennungskämpfe der Migration zwischen Erinnerung und Aktualität“


Donnerstag, 24. August 2023. 18.00 Uhr – 21.00 Uhr
im Bürgerhaus Mülheim (MüZe), Berliner Str. 77, 51063 Köln-Mülheim

Eine Veranstaltung von interKultur e.V., in Kooperation mit der Geschichtswerkstatt Mülheim

Programmablauf

18.00 Uhr: Einlass & Empfang
18.30 Uhr: Eröffnung der Ausstellung „Etappen, Konflikte und Anerkennungskämpfe der Migration“ (mit Fotos von Manfred Vollmer, Gernot Huber, Sergej Lepke und vielen anderen).

Ausstellungseröffnung mit Nihat Öztürk

(Nihat Öztürk kam 1973 als Gießereiarbeiter in die Bundesrepublik Deutschland, ehe er, von der Hans-Böckler-Stiftung gefördert, ab 1978 studierte und schließlich drei Jahrzehnte lang für die IG Metall arbeitete, die meiste Zeit als Erster Bevollmächtigter und Geschäftsführer in Düsseldorf-Neuss)

Eine Veranstaltung der Gruppe "Streikkultur".

#5 12.09.2023, Köln. Podium: Gewerkschaften und soziale Bewegungen: Zwischen Ignoranz, Konfrontation und Kooperation

Podium: Gewerkschaften und soziale Bewegungen: Zwischen Ignoranz, Konfrontation und Kooperation.


50 Jahre nach dem großen Ford-Streik in Köln sind auch diese Zeiten wieder geprägt von starken Arbeitskämpfen, die heute von sozialen Bewegungen unterstützt werden - ob im Krankenhaus, bei Lieferando oder im Bereich "Soziales und Erziehungswesen". Durch langjährige Annäherungen und Auseinandersetzungen sind immer stärkere Verbindung entstanden, die aktuell in Kampagnen wie "Wir fahren zusammen" münden, die die Beschäftigten im ÖPNV und der Klimabewegung zusammenbringen.

Doch nicht immer führt der Weg von Gewerkschaften und sozialen Bewegungen aufeinander zu, sondern ist häufig geprägt von gegenseitiger Skepsis, unterschiedlichen oder auch gegensätzlichen Zielen, Strategien und Taktiken, Konkurrenz und Wissen umeinander.

Diese vielfältigen kooperativen wie konfrontativen Erfahrungen drängen auf Diskussion, Reflektion und Verabredungen. Deshalb laden wir ein, um gemeinsam zu diskutieren: Was sind Möglichkeiten, Hindernisse und Grenzen in der Zusammenarbeit von sozialen Bewegungen und DGB-Gewerkschaften?

mit

Impulse:
Franziska Heinisch (Aktivistin & Autorin)
Witich Roßmann (Vorsitzender DGB Köln & Autor)

und weitere Podiumsgäste

Moderation:
Nelli Tügel (Journalistin, Autorin & Redakteurin)

12. September 2023 | 18.00 Uhr
Alte Feuerwache | Großes Forum | Melchiorstr. 3, 50670 Köln

Eine Kooperationsveranstaltung von:
DGB Stadtverband Köln, Fridays for Future Köln, Profite schaden Ihrer Gesundheit

#6 1.+2.09.2023, Düsseldorf. Konferenz: Gelingende und misslingende Solidarisierungen. 50 Jahre spontane Streiks

Konferenz: Gelingende und misslingende Solidarisierungen. 50 Jahre spontane Streiks

Im August 2023 jähren sich zum fünfzigsten Mal die spontanen Streiks beim Autozulieferer Pierburg in Neuss und bei Ford in Köln, die bereits damals eine recht große Aufmerksamkeit erfuhren, vor allem aber in den folgenden Jahrzehnten wegen des weit überproportionalen Anteils von Migrant:innen unter den Streikenden und ihres – vor allem bei Ford in Köln – „inoffiziellen“ Charakters für eine neuere politische und wissenschaftliche Debatte und einen (post-)migrantischen Aktivismus eine geradezu symbolische Bedeutung erlangten.

Die Erinnerung an die Streiks von 1973 war in den letzten Jahren vor allem davon geprägt, migrantischen Widerstand, migrantische (Arbeits-)Kämpfe und migrantische Akteur:innen in den Mittelpunkt sichtbar zu machen und zu würdigen. Auch lassen sich die Kämpfe von 1973 einem längeren zeitlichen Bogen von Arbeitsauseinandersetzungen zuordnen, der beispielsweise vom Spätsommer 1969 („Septemberstreiks“) bis 1974 (erfolgreicher ÖTV-Streik) datiert werden kann.

Die Streiks in dieser Phase der bundesrepublikanischen Geschichte lassen sich bei näherer Betrachtung nicht dichotomisch als „wilde“ Streiks gegen die DGB-Gewerkschaften und ihre „legalen“ Arbeitskämpfe beschreiben, sondern zeigen eher ein widersprüchliches Wechselspiel denn einen schroffen Gegensatz. Der vorwiegend von Frauen getragene Streik in Neuss, der sich gegen die faktisch ausschließlich Frauen diskriminierende Lohngruppe 2 richtete, war auch deshalb erfolgreich, weil sich die Mehrheit von Betriebsrat und lokaler IG Metall solidarisch verhielten. Für heutige linke Kämpfe könnte dies ein Hinweis sein, nicht zu sehr über Forderungen an Staat und die Gesetzgebung zu operieren, sondern stärker auf die Entwicklung und Durchsetzung aktiver solidarischer Praxen in der Arbeitswelt zu setzen.

Damit dies gelingen kann, sind Solidarisierungsbedingungen entscheidend, die verbindende Kämpfe erlauben. In Neuss gelang dies, in Köln nicht. Doch sollte auch dieser Unterschied von gelungener und gescheiterter Solidarisierung nicht zu einer weiteren Dichotomie ausgebaut werden; auch aus dem Scheitern können wertvolle Schlussfolgerungen gezogen werden.

Wir, das sind die Rosa-Luxemburg-Stiftung, die Otto-Brenner-Stiftung, die Hans-Böckler-Stiftung, die Stiftung Menschenwürde und Arbeitswelt, die IG Metall (Vorstandsressort Migration und Teilhabe), die IG Metall Geschäftsstelle Düsseldorf-Neuss, das Institut für soziale Bewegungen in Bochum sowie die German Labour History Association, nehmen für unsere Tagung am 1. und 2. September in Düsseldorf den Jahrestag zum Anlass und fragen: Was macht die Faszination dieser Streiks von 1973 aus, und wie sie sind heute aus geschichtswissenschaftlicher sowie aktivistischer Perspektive einzuschätzen? Inwieweit lässt sich aktuell produktiv daran anknüpfen?

Den Auftakt zur Tagung bildet ein Kulturprogramm zum Thema am 1. September ab 17 Uhr im DGB-Haus Düsseldorf. An selber Stelle beginnt am Samstag um 10 Uhr die Tagung. Gewerkschafter:innen, Zeitzeug:innen, Wissenschaftler:innen und politisch Aktive aus unterschiedlichen Spektren kommen in verschiedenen Formaten ins Gespräch. Außerdem wird aus dem Kreise der Veranstalter:innen eine Publikation im Sommer erscheinen.

Programm

Freitag, 1. September:

  • 17:30 Uhr: Ankommen
  • 18:00 Uhr: Begrüßung und Einführung Nuria Cafaro, Rosa-Luxemburg-Stiftung NRW und Efsun Kızılay, Rosa-Luxemburg-Stiftung (Berlin)
  • 18:15 Uhr: Gastarbeiter-Monologe von Mesut Bayraktar

Gekommen, um zu gehen, doch geblieben. Ein Theaterstück. Eine szenische Lesung. Vier Figuren. Zusammengenommen, ein Chor. Eine Stunde und dreißig Minuten. Auf Grundlage von authentischen Quellen und dichterischer Fiktion. Text und Szenische Einrichtung: Mesut Bayraktar. Mit: Günfer Cölgeçen, Burçin Keskin, Miriam Meißner, Kutlu Yurtseven. Musik: Kaptan Bayraktar | Video: Svenja Hauerstein. Die Lesung dauert 90 Minuten. Im Anschluss besteht die Möglichkeit zum Austausch.

20:30 Uhr: Ende

Samstag, 2. September

  • 10:00 Uhr: Begrüßung
  • Dr. Michaela Kuhnhenne, Hans-Böckler-Stiftung
  • 10:10 Uhr: „Migrantische Kämpfe um Anerkennung und die Rolle der Gewerkschaften - eine kritische Zwischenbilanz“
  • Nihat Öztürk, Vorstandsmitglied der Gewerkschaftsintiative "Gelbe Hand" und ehemaliger Erster Bevollmächtigter der IG Metall Düsseldorf-Neuss.
  • 10:40 Uhr: Vortrag und Diskussion: „Wir sind alle Fremdarbeiter!“ – 1973 als europäischer Höhepunkt migrantischer Kämpfe?
  • Dr. Simon Goeke, Kurator und wissenschaftlicher Mitarbeiter für Migrationsgeschichte am Münchner Stadtmuseum.
  • Moderation: Dr. Salvador Oberhaus, Historiker, Stellvertretender Büroleiter der Rosa-Luxemburg-Stiftung NRW
  • 12:15 Uhr bis 13:00 Uhr: Mittagspause
  • 13:00 Uhr: Vortrag und Diskussion: „Organisation und Teilhabe migrantischer Arbeitnehmer:innen in der IG Metall – eine Erfolgsgeschichte“
  • Mit Christiane Benner, Zweite Vorsitzende der IG Metall
  • Moderation: Dr. Michaela Kuhnhenne, Hans-Böckler-Stiftung
  • 14:00 Uhr: „Fraternité. Schöne Augenblicke in der europäischen Geschichte.“ Eine szenische Lesung aus dem Werk von Bernd-Jürgen Warneken
  • 14:30 Uhr: Vortrag und Diskussion: „Hoch die internationale Solidarität? Migrantische Beschäftigung zwischen Fragmentierung und dem Kampf um die Erweiterung des 'Wir'“
  • Mit Prof. Dr. Nicole Mayer-Ahuja, Professorin für Soziologie von Arbeit, Unternehmen, Wirtschaft an der Universität Göttingen.
  • Moderation: Dr. Florian Weis, Historiker, Referent für Antisemitismus und jüdisch linke Geschichte und Gegenwart / Klassen in der Rosa-Luxemburg-Stiftung (Berlin)
  • 16:00 Uhr: Kaffeepause
  • 16:15 Uhr: Gelingende und misslingende Solidarisierungen: Die spontanen Streiks bei Hella (Lippstadt), Pierburg (Neuss) und Ford (Köln) 1973 und ihre Wirkungen
  • Nuria Cafaro, Historikerin und Vorstandsmitglied der Rosa-Luxemburg-Stiftung NRW begrüßt Irina Vavitsa, ehemalige Betriebsrätin bei Hella, und Dieter Braeg, ehemaliger Betriebsrat bei Pierburg, im Erzählcafé. Weiter Gäste sind angefragt. Zum Einstieg zeigen wir ein Interview mit Hasan Doğan, Aktivist beim Ford-Streik.
  • 18:45 Uhr: Ausklang der Veranstaltung

Anmeldung: https://www.rosalux.de/veranstaltung/es_detail/X6FIX/gelingende-und-misslingende-solidarisierungen?cHash=1df5fa09af6432be1dbc6eab5667037a

Kooperationspartner*innen: Rosa-Luxemburg-Stiftung (Bund und NRW), die Otto-Brenner-Stiftung, die Hans-Böckler-Stiftung, die Stiftung Menschenwürde und Arbeitswelt, die IG Metall (Vorstandsressort Migration und Teilhabe sowie Geschäftsstelle Düsseldorf-Neuss), das Institut für soziale Bewegungen in Bochum sowie die German Labour History Association

Die Statements im Wortlaut

#1 Nuria Cafaro, Historikerin

„In den letzten Jahrzehnten wurde die Relevanz der „wilden“ Streiks von 1973 vor allem von migrantischen Selbstorganisationen und in linker, vor allem betriebsinterventionistischer Erinnerungskultur betont und wachgehalten. Dass sie heute endlich breiter erinnert und aufgearbeitet werden, ist ein Fortschritt, der vor allem der Vehemenz von Aktivist*innen zu verdanken ist. Aber auch der Tatsache, dass sie heute eine besondere Aktualität haben: wie beispielsweise in den heutigen feministischen Streiks, den Auseinandersetzungen um Arbeits- und Lebensbedingungen von Migrant*innen, der Inflation oder der zunehmenden Streikaktivität.

Dass diese Streiks mit 50 Jahren Abstand inzwischen beforscht und auch seitens der Gewerkschaften – die eine ambivalente Rolle in deutscher Migrationsgeschichte und migrantisch geprägten Streiks einnehmen – bearbeitet werden, ist ein wichtiger Schritt in der Auseinandersetzung mit und Würdigung der Arbeitskämpfe. Streiks wie bei Pierburg, Hella und Ford sind längst mehr als die Ereignisse selbst. Sie machten Migrant*innen als politische Subjekte in der breiteren Öffentlichkeit erstmalig sichtbar und waren so immer wieder Bezugspunkt migrantischer Selbstorganisierung.
Die Erinnerung an die Streiks ist nicht nur bedeutend, weil migrantischer Widerstand in öffentlicher Geschichtskultur bisher keinen Platz erhalten hat, sondern auch, weil wir in vielfältiger Weise von ihnen lernen können – wenn wir Bewegungsgeschichte wissenschaftlich aufarbeiten, gewerkschaftlich arbeiten, wenn wir streiken wollen, wenn wir diesem Land eine klügere Migrationspolitik aufzwingen wollen.“

Nuria Cafaro hat Philosophie, Geschichte und Bildungswissenschaften studiert und promoviert an der Universität zu Köln über Arbeitskämpfe in Italien, Frankreich und Westdeutschland um 1968. Sie arbeitet beim Kölner Frauengeschichtsverein zur Selbstorganisation von Migrantinnen, veranstaltet Stadtrundgänge zur Geschichte der Migration von Frauen und ist in der Bildungsarbeit zur Gewerkschafts- und Migrationsgeschichte tätig. Weitere Schwerpunkte ihrer Arbeit liegen auf der Geschichte der italienischen Arbeiter*innenbewegung und der des migrantischen Protests in der Bundesrepublik Deutschland, insbesondere der des Kölner FordStreiks von 1973.

#2 Witich Rossmann, Gewerkschafter

Der „Wilde Ford Streik 1973“, geplant als „spontane Arbeitsniederlegung“ für Teuerungszulagen und humanere Arbeit am Band, die das Ford Management lange verweigerte, wurde zum Aufstand der türkischen Arbeitsmigranten, der ihre Lebens-wie Arbeitsbedingungen exemplarisch für die „Gastarbeiter“ thematisierte. Als Aufstand wurde er nicht nur Thema Nr.1 in allen Medien, sondern gleichzeitig auch Aufbruchssignal selbstbewusst werdender Migrant*innen.

Ich gehe nach meinen Recherchen davon aus, dass wir es nicht mit einem „wilden“ Streik, sondern mit zwei sozialen Bewegungen zu tun haben: einer spontanen Arbeitsniederlegung nach dem Muster gewerkschaftlicher Verhandlungslogiken, von gewerkschaftlichen Vertrauensleuten geplant, und einer migrantischen Bewegung, die der Aufstandslogik folgte. Trotz des desasterhaften Endes zeitigte der migrantische Aufstand vielfältige, nachhaltige Veränderungen: Er zwang alle Akteure zu einer neuen Sicht auf die »Gastarbeiterfrage« und auf den Umgang mit den Arbeitsmigranten.

Im Ford Streik wurden die Missstände selbstbewusst aber noch erfolglos thematisiert. In der Folge entwickelten sich die Arbeitsmigrant*innen zu engagierten Kämpfer*innen in den Gewerkschaften. Gemeinsam erkämpften sie schon im Oktober 1973 bessere Arbeitsbedingungen in Baden-Württemberg, im Stahlstreik 1979/80 den sechswöchigen Urlaub und 1984 die 35 Stundenwoche und arbeiten engagiert als Betriebs- und Aufsichtsräte, als Vertrauensleute und Gewerkschaftssekretäre.

Witich Rossmann ist Politikwissenschaftler und langjähriger Gewerkschaftssekretär der IG Metall. Derzeit ist er Vorsitzender des DGB Köln/Bonn.

#3 Peter Bach, Zeitzeuge

„1973 gab es über 2,5 Millionen als „Gastarbeiter“ verhöhnte migrantische Arbeiter*innen in Deutschland. Viele von ihnen arbeiteten hier schon weit über zehn Jahre als „Gäste“, verrichteten die härteste Arbeit zu den niedrigsten Löhnen, ruinierten ihre Gesundheit und lebten in engen, oft menschenunwürdigen Unterkünften.

Es hatte schon viele kleine Widerstandsaktionen gegeben, aber 1973 traten Zigtausende in vielen Betrieben in den Streik, um dieser Ungerechtigkeit und Respektlosigkeit ein Ende zu bereiten. Die Frauen bei Hella und Pierburg und die Werksbesetzer bei Ford schrieben Geschichte.

Die Aktionen bewirkten viel: Die Migrierten verschafften sich Respekt und entzogen damit ihrer Diskriminierung die gesellschaftliche Akzeptanz. Management und Gewerkschaften waren gezwungen ihre Strategie zu ändern. Gut drückte das eine Gruppe junger "migrantischer" Industriemeister aus, als sie 25 Jahre später zu Teilnehmenden des 73-er Streiks sagten: „Ohne euch wären wir nicht hier“. Das Ende der Sonderausbeutung der Migrant*innen veränderte auch völlig die Produktionsabläufe. Die Y-Halle war nach 25 Jahren nicht wiederzuerkennen.

Wir können daraus lernen, dass die Welt sich nur sich nur zu unserem Vorteil verändert, wenn wir nachhelfen.

Ich freue mich sehr über das Interesse vor allem der Enkelgeneration der damals Streikenden, mehr über die damalige Situation zu erfahren, aber auch über die Souveränität der jungen migrantischen Wissenschaftler*innen, Fragen neu zu stellen, Machos aus der Reserve zu locken und der Streikgeschichte neue Facetten abzugewinnen. Der 50. ist für mich als Ex-Streikteilnehmer nochmal ein echtes Highlight geworden.“

Peter Bach arbeitete damals bei Ford und unterstützte den Streik. Heute ist er vielfältig engagiert, u.a. in der Initiative Herkesin Meydanı — Platz für Alle und in der Geschichtswerkstatt Köln-Mülheim.

#4 Peter Birke, Historiker

„In den Arbeitsniederlegungen von 1973, die nur einen Höhepunkt vorher einsetzender Kämpfe darstellen, kam etwas zum Vorschein, das es eben schon lange gab: der alltägliche Widerstand gegen gesundheitsschädliche, schlecht bezahlte Arbeit, gegen autoritäre Meister, und allgemein gegen Würdeverletzungen.

Das gilt ganz ähnlich auch für die Streiks, die überwiegend von Migrant*innen getragen wurden. Man kann sagen, dass es von dem ersten Tag der „Gastarbeit“, zu Streiks und Protesten kam. Bei den "migrantischen" Streiks sind zwei Aspekte besonders, die für alle anderen Beschäftigten damals (und heute) nicht gleichermaßen bedeutend waren: Die Streikenden wehren sich immer auch gegen die Prekarität des „Gastarbeiteregimes“ und gegen den Rassismus in der deutschen Gesellschaft. Deshalb sind sie für eine emanzipatorische Erinnerungskultur so wichtig.

Die Streiks bei Pierburg und Ford sind insofern Geschwister der aktuellen Kämpfe, wo heute Arbeiter*innen gegen Ausbeutung vorgehen, auch ohne vorher um Erlaubnis bei einer Institution zu fragen. Und vielleicht sind sie auch Geschwister der Proteste gegen die Ermordung von Nahel in Frankreich in diesem Sommer.

Nach den Streiks von 1973 hat sich einiges verbessert: Für die, die nicht gekündigt wurden, gab es mehr Migrant*innen in Betriebsrat und Gewerkschaft. Für die, die im Land blieben, gab es mit der Zeit bessere rechtliche Bedingungen. Sieht man sich an, wie manchmal Menschen auf der Arbeit behandelt werden, die heute nach Deutschland kommen, dann findet man allerdings sehr viele Ähnlichkeiten, mit dem, was den Leuten damals bei Pierburg oder Ford geboten wurde.

Auch deshalb ist es wichtig, die Erinnerung wachzuhalten, wie es DOMiD und viele andere versuchen!"

Peter Birke ist Historiker und Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Soziologischen Forschungsinstitut Göttingen.

#5 Simon Goeke, Historiker

"Die migrantischen Streiks bei Ford in Köln-Niehl, bei Pierburg in Neuss, bei Hella in Lippstadt und anderswo bleiben aus verschiedenen Gründen unvergesslich. Im Sommer 1973 zeigte sich, dass sich die Zugewanderten nie mit der für sie vorgesehenen Rolle der dankbaren und ausbeutbaren Wanderarbeiter*innen abgefunden haben. Schon zu Beginn der Anwerbung haben Migrant*innen sich gegen Diskriminierungen, sowie gegen unzumutbare Arbeits- und Lebensbedingungen zur Wehr gesetzt. Die Arbeitsniederlegungen 1973 waren der Wendepunkt, an dem dieser Widerstand nicht mehr ignoriert werden konnte. Auch wenn nicht alle dieser Kämpfe gewonnen wurden, bewirkten die Protagonist*innen der Streiks viel. Das gewerkschaftliche Engagement von und für Migrant*innen verstärkte sich nochmal, zusätzliche Pausen am Fließband wurden im Tarifvertrag aufgenommen, die diskriminierenden Leichtlohngruppen für Frauen wurden erstmals erfolgreich bekämpft, der Jahresurlaub konnte auch zusammenhängend genommen werden...
Die migrantischen Arbeiter*innen wehrten sich gegen Rassismus, gegen das Patriarchat und gegen die Diskriminierung als Arbeiter*in und erreichten dabei Fortschritte für alle – im Betrieb und in der Gesellschaft."

Der Historiker Simon Goeke arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter für Migrationsforschung und Kurator am Münchner Stadtmuseum. In seiner 2020 erschienenen Doktorarbeit mit dem Titel »Wir sind alle Fremdarbeiter!« setzt er sich mit den migrantischen Kämpfen der 1960er- und 1970er-Jahre in der Bundesrepublik und ihren Verbindungen zu den sozialen Bewegungen und den Gewerkschaften auseinander.

Jetzt als E-Book erhältlich: edition DOMiD Buch zum Fordstreik 1973

»Gastarbeiter« im Streik – Die Arbeitsniederlegung bei Ford Köln im August 1973

Von Jörg Huwer in der "Edition DOMiD"

DOMiD veröffentlichte 2013 anlässlich des 40. Jahrestags des sogenannten „Ford-Streiks“ das Buch »Gastarbeiter« im Streik – Die Arbeitsniederlegung bei Ford Köln im August 1973 von Jörg Huwer. Der Autor beschreibt auf anschauliche und eindrückliche Weise den Ablauf und die Hintergründe der Arbeitsniederlegung. Zum ersten Mal wurden so die Zusammenhänge des Streiks klar und deutlich aufgezeigt, jenseits aller bisherigen Deutungsmuster. Die Print-Publikation ist lange vergriffen aber mit freundlicher Genehmigung des Autors können wir das Buch nun zum 50. Jahrestag kostenfrei als PDF zur Verfügung stellen.

E-Book downloaden

(Kurze Registrierung erforderlich)

Kurzhörspiel von Mesut Bayraktar: "Wenn der Damm bricht. 50 Jahre Streik bei Ford in Köln"

„Ich bin Nazim. Ihr könnt mich aber auch Erkan, Deniz oder Ali nennen“ – eine Stimme vom spontanen Streik bei Ford in Köln erzählt von den sechs Tagen im Sommer 1973, vom 24. bis zum 30. August. Die Beschäftigten in der Y-Halle, Endmontage, hören auf sogenannte Gastarbeiter zu sein. Die Bundesrepublik sieht, dass die angeworbenen Arbeiterinnen und Arbeiter Menschen sind.

Der Text stammt aus dem Theaterstück „Gastarbeiter-Monologe“ (Autor: Mesut Bayraktar). Für das Kurzhörspiel wurde es vom Autor entsprechend umgeschrieben. Mehr Infos hier.

HINWEIS

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form ohne Genehmigung des Autors reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitert werden. Hier mit freundlicher Genehmigung des Autors.

Zeitzeuge im DOMiD-Interview: Mitat Özdemir zum Fordstreik 1973

deutsch | 4 Min | 2023 | Interview (Auszug) durch Bengü Kocatürk-Schuster | Quelle: DOMiD

Music Video Clip "1973 Grevi" (Nazım Sabuncu)

Copyright: Nazım Sabuncu. Link zur Single: https://ditto.fm/1973-grevi

Film über Ford-Streik 1973: "Diese spontane Arbeitsniederlegung war nicht geplant"

Team: Thomas Giefer, Yüksel Uğurlu, Klaus Baumgarten | deutsch | 43 min | 1982 | Quelle: labournet.tv

Zeitzeugin im Video: Emine Orhanoğlu berichtet über den Streik bei Pierburg, 1973

deutsch | 34 min | 2023 | Team: Linda Gao-Lenders, Irem Adıgüzel, Laura R. Beische | Quelle: fake (Uni Köln)

Video: Pierburg "Ihr Kampf is unser Kampf" (Aussschnitt)

deutsch | 49 min | 1974. Regie: Edith Schmidt/David Wittenberg. Quelle: labournet.tv

Archivmaterialien

Bei DOMiD

  • Interviews zu den 1973 Streiks bei Nobel, Lippstadt, Karmann, Neupack, Feuerbach und weitere.
  • Schriftgut (u.a. Flugschriften), Veranstaltungsmaterialien und Publikationen, vereinzelt AV-Medien
  • Fotografien zum Pierburg-Streik (Neuss) und vereinzelt zum Fordstreik.

In anderen Archiven:

  • Fotos zum Fordstreik von Christian Dalchow/Kölnische Rundschau im Greven Digital Archiv
  • Fotos zum Fordstreik von Gernot Huber bei laif

Zeitzeug*in der Streiks? Zeitzeugnisse? Objekte?

Sie waren damals bei den Streiks dabei und haben noch Erinnerungsstücke von damals? Sie möchten uns Ihre Geschichte erzählen? Kontaktieren Sie uns gerne und vereinbaren Sie einen Gesprächstermin.
Kontakt: E-Mail: Bengü Kocatürk-Schuster

Online-Ressourcen

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