Es sind schon 60 Jahre her, seit das Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei verabschiedet wurde. Bis heute formen derartige Abkommen die Gesellschaft und prägen die Menschen: Stück für Stück.
Wir blicken zurück:
Vor 60 Jahren machten sich viele so genannte Gastarbeiter am Istanbul Sirkeci Bahnhof auf den Weg nach Deutschland. Ihre Gefühle waren geprägt von Trauer, Unwissenheit, aber auch Hoffnung. Die dreitägige Zugfahrt führte in die Fremde – nach Deutschland. Vorbereitet waren die Menschen häufig nicht. In ihren Koffern befand sich nur das Notwendigste: Fotos von geliebten Menschen oder auch Alltagsgegenstände, die sie nicht hinter sich lassen konnten.
Die Ankunft in Deutschland war nicht einfach. Die Menschen kannten meist die Sprache, die Kultur und das Land nicht. Die Gesellschaft war ihnen zunächst fremd. Doch das sollte sich ändern: Damals „Gastarbeiter“ genannt, sind sie heute Bürger*innen dieses Landes.
Welche Momente haben 60 Jahre Almanya geprägt? Wie denken Menschen mit familiärer oder eigener Migrationsgeschichte über das Anwerbeabkommen? Diese und weitere Fragen hat DOMiD im Rahmen des Projekts 60 Jahre Almanya dokumentiert. Mit Hilfe von Interviews, Bildergalerien und Veranstaltungshinweise können vielfältige Einblicke in diese Fragen gewonnen werden.
Grußworte zu "60 Jahre Almanya"
Kübra Gümüşay: "Unsere Gegenwart ist divers, vielseitig, vielschichtig und facettenreich. Und so auch unsere Geschichte. Wenn sie in der Erzählung unserer Vergangenheit fehlen, also für nichtig erklärt werden, wird sie weder unserer Gegenwart, unserer Zukunft, noch unseren Idealen gerecht. Geschichten von Migration, Flucht und Vertreibung zu erzählen ist keine optionale Ergänzung, sondern ein elementarer Bestandteil unserer Geschichte."
Saša Stanišić: "Als ich das Wort "Gastarbeiter" zum ersten Mal hörte, wunderte ich mich: arbeitende Gäste? Bei uns, in Bosnien, ließ man einen Gast gar nichts arbeiten, das ist ja das Wesen des Gastes - bedient und umgarnt zu werden, und wir als Gastgeber tun unser allerbestes, damit der Gast sich wohl fühlt, es ist uns eine Ehre und ein Glück, Gäste zu haben. Deutschland hat nicht immer Allerbestes getan, damit sich die Gäste wohlfühlen. Umso wichtiger ist die Erinnerung an die Anfänge des Gastseins und der "Gastfreundschaft" - damit die zukünftigen Generationen und auch wir, die als Gäste und Geduldete kamen und jetzt das Privileg des Gastgebers genießen, damit wir es irgendwann besser machen."
Dr. Hatun Karakaş:„Ich freue mich den Traum der älteren Generationen leben und mit unserer Anwesenheit glücklich machen zu können. Größtenteils kamen sie ungebildet nach Deutschland und hatten geringe Chancen auf Bildung und Anerkennung.“
Prof. Dr. Karim Fereidooni: „Die Erinnerung an ausländische Arbeiter*innen die im Rahmen des Anwerbeabkommens nach Deutschland kamen, ist für unsere Einwanderungsgesellschaft relevant, weil der Wohlstand unserer Gesellschaft maßgeblich von diesen Menschen miterarbeitet wurde. Ohne die großartige Leistung von Arbeitsmigrant*innen wäre das Wirtschaftswunder nicht denkbar. Unsere Gesellschaft schuldet diesen Menschen großen Dank.”
Özcan Mutlu: „Die Geschichte der Einwanderung von Menschen aus der Türkei in die Bundesrepublik ist sehr vielfältig und geprägt von vielen Höhen und Tiefen. Die Brandanschläge von Mölln und Solingen oder die kaltblütigen Morde des NSU-Terrors sind unvergessen und haben sich tief in das kollektive Gedächtnis vieler Menschen aus der Türkei – für die Deutschland längst zur Heimat geworden ist – eingeprägt. Dennoch: Die Geschichte der ersten Gastarbeitergeneration ist eine Geschichte von Kämpfer*innen und Held*innen. Es sind herzzerreißende Geschichten von Ablehnung und Ausgrenzung, von Misserfolgen und Enttäuschungen, aber auch von Mut und Zuversicht, von Kampfeswillen und großartigen Erfolgen. Denn allen Widersprüchen und Unkenrufen zum Trotz repräsentieren die Nachkommen der ehemaligen Gastarbeiter*innen eine neue Generation von Deutschen. Eine Generation mit hybriden Identitäten, die sich nicht auf eine Herkunft reduzieren lassen, Diversität leben und unser Land mit ihrer Vielfalt bereichern. Ich liebe dieses Land, weil es eben kulturell so reich und vielfältig ist. Das ist auch meine Antwort an all jene, die in ihrem völkisch-nationalen Wahn unser Land nur schlechtreden und uns nur als 'Passdeutsche' sehen. Diese sollen wissen: Das Rad der Geschichte lässt sich nicht zurückdrehen.“
60 Jahre Almanya – in Bildern - Teil 1
Bilder von sog. Gastarbeitern zeigen allzu oft Männer bei der Arbeit, z.B. in Fabriken. Dass von Beginn an auch türkische Frauen allein nach Deutschland reisten, um als sog. Gastarbeiter zu arbeiten, wird in dieser Darstellung oftmals vergessen. Auf diesem Bild ist eine Abschiedsszene am Istanbuler Bahnhof Sirkeci 1965 zu sehen.
Die sog. Gastarbeiter wurden größtenteils im Industriesektor eingesetzt. Oftmals gingen sie dabei „geschlechtsspezifischen“ Tätigkeiten nach, wie diese Frauen bei der Firma Paul Oubrier, einem Knopf-Hersteller. Die Arbeiterin in der Mitte kam 1968 allein nach Deutschland und wohnte in einem Frauenwohnheim in Gummersbach.
1968 eröffnete das erste türkische Lokal namens „Efes“ in Berlin. Hier wurden vor allem Veranstaltungen mit türkischer Live-Musik geboten. Mit der Eröffnung eines eigenen Geschäfts wagten einige Migrant*innen schon früh den Schritt aus dem Beschäftigtenverhältnis in die Selbstständigkeit. Gastronomien wie diese boten insbesondere Migrant*innen einen Raum, sich mit Bekannten zu treffen und auszutauschen.
Kurz nach der Feier zum zweiten Geburtstag ihres Sohnes 1970 in der Türkei reiste die Familie dem Vater nach, der bereits ein Jahr in Deutschland arbeitete. Im Rahmen der Familienzusammenführung wurde es sehr vielen ausländischen Arbeiter*innen möglich, nach längerer Trennung gemeinsam in Deutschland zu leben.
Bevor die sog. Gastarbeiter überhaupt für die Arbeit in Deutschland zugeteilt wurden, mussten sie zunächst eine Eignungsuntersuchung bestehen. Die hier gezeigten Männer erwarten angespannt das Ergebnis ihrer Prüfung in der Deutschen Verbindungsstelle in Istanbul im Jahr 1973. Die vorangegangenen Untersuchungen waren mit großem Druck verbunden, schließlich entschied das Ergebnis über ihre nächsten Lebensjahre und den Verbleib in der Türkei oder die Migration nach Deutschland.
Dieses Foto entstand 1975 und zeigt ein Paar im Urlaub bei Konya in der Türkei. Der Ford mit Kölner Kennzeichen lässt erkennen, dass es mit dem Auto aus Deutschland angereist ist. Viele Migrant*innen aus der Türkei fuhren in den Sommermonaten ihre Verwandten besuchen. Oftmals blieben sie einige Wochen am Stück, da dies die einzige Zeit im Jahr war, in der sie verreisen und ihre Familien sehen konnten.
Eine Familie holt die Mutter des Mädchens nach ihrem Arbeitstag bei Philips in Krefeld Linn ab. Die Großeltern, bei denen die Enkelin viele Jahre lebte, sind kurz zuvor aus der Türkei angereist. Dieses Bild verdeutlicht das Schicksal der „Kofferkinder“, die aufgrund der Berufstätigkeit ihrer Eltern zwischen Deutschland und der Türkei pendelten.
In einem Kino in der Kölner Weidengasse werden ein türkischer und ein italienischer Film gezeigt. Die Anwesenheit von sog. Gastarbeiter eröffnete in Deutschland selbstverständlich auch neue Märkte für Güter, die speziell auf Migrant*innen als Konsument*innen abzielten.
Die Mehrzahl der sog. Gastarbeiter lebte kurz nach ihrer Ankunft in Wohnheimen. Mit der Zeit bezogen immer mehr Migrant*innen eigene Wohnungen für sich und ihre Familien. Die eigenen vier Wänden waren nicht nur Lebensmittelpunkt und Rückzugsort, auch boten sie die Möglichkeit, Feste und Rituale zu begehen und das Privatleben frei zu gestalten. Auf diesem Foto ist eine Hochzeitsfeier in einer Privatwohnung im Jahr 1983 in Göppingen zu sehen.
Das Leben von Migrant*innen in Deutschland war aber auch schon immer mit großem Leid verbunden. Ein trauriges Beispiel hierfür ist der Tod Cemal Kemal Altuns: Er beantragte als politischer Flüchtling Asyl in Deutschland, weil er aufgrund seiner politischen Betätigung in seinem Heimatland von der türkischen Militärdiktatur verfolgt wurde. Seine Auslieferung hätte für ihn Folter und den sicheren Tod bedeutet. Um diesem Schicksal zu entgehen, sprang er am 29. August 1983 aus dem Fenster des Oberverwaltungsgerichts Berlin und beging Suizid. Sein Tod rief in der Bürger*innenschaft Trauer- und Solidaritätsbekundungen hervor. Dieses Foto zeigt eine Mahnwache, die im selben Jahr in Gelsenkirchen abgehalten wurde.
60 Jahre gemeinsame Geschichte - Einblicke in Interviews mit Personen türkischer Migrationsgeschichte
60 Jahre Almanya – in Bildern - Teil 2
Arbeiter bei den Ford-Werken in Köln Niehl bei einer Pause. Sog. Gastarbeiter verrichteten größtenteils schwere körperliche Arbeit, die wenige deutsche Staatsangehörige bereit waren zu leisten. Daher haben noch heute viele ausländische Arbeiter*innen starke körperliche Beschwerden. Der Arbeitsplatz war aber oftmals auch Begegnungsraum: Hier arbeiteten Beschäftigte verschiedener Herkunft zusammen und lernten einander kennen.
Eine Musikgruppe junger Türkinnen spielt 1987 in Berlin.
Die deutsche Familie H. und die türkische Familie G. kannten einander von ihrem gemeinsamen Arbeitsplatz, dem Autohersteller Ford. Dieses Foto zeigt sie 1988 beim gemeinsamen Urlaub in der Türkei. Das Bild ist womöglich bei einer Pause von den oftmals tagelangen Autofahrten entstanden. Das Installieren von Dachgestellen auf Fahrzeugen bot eine praktische Möglichkeit, um mehr Gepäck für die teils wochenlangen Urlaube in der Heimat der Migrant*innen unterzubringen.
Ein Tag nach der Öffnung der Berliner Mauer sammeln sich Menschen an der ehemaligen Grenze zwischen West- und Ostberlin am Gröbenufer (heute May-Ayim-Ufer) und der Oberbaumbrücke in Kreuzberg. Das migrantisch - vor allem von Türk*innen- geprägte Kreuzberg galt damals als vergessener Bezirk an den Rändern Westberlins. Hier fungierte die Spree bis 1989 als Wassergrenze zwischen den beiden Teilen der Stadt. Das Gröbenufer ist vor allem trauriger Schauplatz dieser Umstände: Am unbefestigten Ufer ertranken zwischen 1966 und 1975 fünf Kinder. (Quelle: Chronik der Mauer, Todesopfer)
Am 29. Mai 1993 wurden in Solingen bei einem rassistischen Brandanschlag Angehörige einer Familie mit türkischer Migrationsgeschichte ermordet. Die Angehörigen waren Genç Gürsün Ince (27), Hatice Genç (18), Gülüstan Öztürk (12), Hülya Genç (9) und Saime Genç (4). 14 weitere Familienmitglieder hatten zum Teil lebensgefährliche Verletzungen. Mevlüde und Durmus Genç verloren am Brandanschlag ihre Töchter, Enkelinnen und Nichte. Beide wanderten Anfang der 1970er Jahre mit drei Kindern aus der Türkei nach Deutschland ein. Der Brandanschlag ist aus niederen, rassistischen Beweggründen begangen worden. Der rassistische Brandanschlag in Solingen war in den Jahren nach der Wiedervereinigung der Höhepunkt einer rechtsextremen Gewalt. Seitdem setzt sich Mevlüde Genç für Toleranz und Verständigung ein und tragt so zu einem friedlichen Miteinander in unserer Gesellschaft bei. Die Bilder veranschaulichen das Haus der Familie Genç vor und nach dem Brandanschlag.
Als Erinnerung an die zehn bekannten Mordopfer – unter ihnen mehrere Opfer aus der Türkei – des „Nationalsozialistischen Untergrundes“ (NSU) pflanzte die Stadt Zwickau Bäume in einem öffentlichen Park. Als Unbekannte den Gedenkbaum für Enver Şimşek schändeten, wurden im November 2019 im Rahmen einer Gedenkveranstaltung erneut Bäume gepflanzt. Die Betroffenen und ihre Familien wurden jedoch nicht oder spät eingeladen und wurden im Vorfeld nicht an der Vorbereitung beteiligt, was u.a. von Gamze Kubaşık (Tochter des Mordopfers Mehmet Kubaşık aus Dortmund) kritisiert wurde. Aktivist*innen des gleichzeitig in Zwickau und Chemnitz tagenden Tribunals „NSU-Komplex auflösen“ kritisierten mit Schildern diese Einladungspolitik und forderten, dass Betroffene von Rassismus in den Mittelpunkt der Erinnerung gerückt und beteiligt werden müssten. Diese Schilder sind bei DOMiD archiviert.
Die Keupstraße ist eine lebendige deutsche Straße in Köln-Mülheim, die als ein Zentrum des Geschäftslebens von Türkeistämmigen bekannt ist. Kurden, Türken, Aleviten, Roma, Deutsche aber auch kurdische Aleviten, Deutsch-Türken und Türkodeutsche und viele mehr leben und arbeiten in der Straße. Die zunehmende Deindustrialisierung des benachbarten Schanzenviertels, das zuvor ein großer Arbeitgeber gewesen war, führte ab den 1970er Jahren dazu, dass die alteingesessenen Ladenbetreiber ihre Geschäfte verließen. Türkeistämmige Migrant*innen (nicht wenige waren zuvor auch in den Fabriken beschäftigt) ließen sich dort nieder und belebten die verfallende Straße. Die Straße ist damit ein Beispiel dafür, wie Migration städtische Räume prägen kann und verschiedene individuelle Lebensentwürfe aus einem verwaisten Stadtteil ein blühendes kulturelles und ökonomisches Zentrum entstehen lassen.
Dokumentation zur Geschichte von DOMiD
Ein Beitrag von Banu Güven, WDR Cosmo.
Veranstaltungen im Rahmen von "60 Jahre Almanya"
Ausstellung, Veranstaltung, News, 60 Jahre Almanya
Ausstellungseröffnung im Landtag NRW: 60 Jahre deutsch-türkisches Anwerbeabkommen
03.12.2021 – 17.12.2021
Der Landtag NRW zeigt anlässlich des Jubiläums des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens zwei unserer Ausstellungen, die am 3.12.2021 bei feierlich eröffnet wurden.
“Ankommen. Ein Gespräch zwischen Generationen” ist eine Kooperationsveranstaltung von DOMiD und Deutsches Auswandererhaus: Junge Menschen fragen, Zeitzeug*innen berichten.
Der Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier besuchte im Rahmen des Festaktes zum 60-jährigen Jubiläum des Anwerbeabkommens mit der Türkei die Ausstellung: "Viel erlebt, viel geschafft… viel zu tun! – Geschichten aus der Migrationsgesellschaft".
Köln feiert das Jubiläum: 60 Jahre deutsch-türkisches Anwerbeabkommen
26.10.2021 – 30.10.2021
Die Stadt Köln begeht das Jubiläum 60 Jahre deutsch-türkisches Anwerbeabkommen mit einem Festakt (in Kooperation mit DOMiD) und zahlreichen Veranstaltungen in der gesamten Stadt.
Im Rahmen der Kölner Jubiläumswoche zum 60. Jahrestag des Anwerbeabkommens mit der Türkei wird der Film "Gleis 11" (D/2021, 67‘) des Regisseurs Çaǧdaş Yüksel am 28.10.2021 um 19:00 Uhr im Kino im Museum Ludwig gezeigt.
Symposium: 60 Jahre türkische Migrationsgeschichte in Deutschland
28.10.2021
Im Rahmen von "60 Jahre - Merhaba" werden am 28.10. Wissenschaftler*innen, Politiker*innen, Praktiker*innen und intergenerational zusammengesetzten Persönlichkeiten aus der Community in einem Symposium zusammenkommen.
Gesprächsreihe: Institutionelle Sicht auf die Erinnerungsarbeit und die Vergegenwärtigung der Migrationsgeschichte
12.10.2021
Im Rahmen der Ausstellung „Wir sind von hier. Türkisch-deutsches Leben 1990“ finden Gesprächsreihen statt. Am 12.10. wird DOMiD-Geschäftsführer Dr. Robert Fuchs auf dem podium mitdiskutieren.
Anlässlich 60 Jahre des deutsch-türkisches Anwerbeabkommen findet die Filmreihe „Die Eingeladenen“ von bi'bak_berlin statt, die in Kooperation mit DOMiD erfolgt.